Indian Summer im Engadin: Hirsche röhren hören
Dass der Indian Summer im Engadin ja mindestens genauso schön ist wie in den USA oder Kanada, zeigt gerade der Spot «Falling for autumn» von Schweiz Tourismus mit Mads Mikkelsen und Roger Federer. Ab in die magische Bergwelt also, wenn die Lärchen ihr Kleid von Grün zu Orange und Gelb ändern. Ein Traum vor den grünen Kiefern und Arven, den schon verschneiten Berggipfeln und dem stahlblauen Himmel.
Einmal Hirsche röhren hören
Ich wollte schon lange einmal «Hirsche röhren hören». Am besten ginge das zur Brunftzeit im Oktober im Nationalpark, hiess es. Ja, «im» Nationalpark: In der kleinen Schweiz haben wir nur einen einzigen. Dafür einen der ältesten überhaupt: Als erster der Alpen und Mitteleuropas war die Gründung des Schweizerischen Nationalparks 1914 ein Meilenstein in der Naturschutzgeschichte.
Heute bildet er sogar mit dem regionalen Naturpark Biosfera Val Müstair ein UNESCO-Biosphärenrevat. In der streng geschützten Wildnislandschaft dürfen sich Tiere und Pflanzen frei entwickeln. Hier wollten wir also hin und gleich zwei Nächte bleiben, um schön Zeit zu haben.
Ein einziger Nationalpark, eine einzige Hütte, ein einziger Hirsch
Nun ist es mit mehrtägigen Wanderungen ja so eine Sache: Wer in einer der tollen Hütten in der Schweizer Bergwelt übernachten möchte, muss früh buchen. Spontan reservieren, wenn man sieht, dass das Wetter schön wird, funktioniert nicht. Das Angebot ist klein, die Wochenenden sind weit im Voraus ausgebucht. Umso mehr im einzigen Nationalpark, wo es zudem nur eine einzige bewirtete Hütte gibt: die Chamanna Cluozza auf 1882 m ü. M. in der wildromantischen Val Cluozza.
Spoileralarm: Hier sollten wir schlussendlich auch unseren einzigen Hirsch des Wochenendes sehen!
Wer so früh buchen muss, landet schon mal im Winter Wonderland statt im Indian Summer.
Wanderung von Zernez zur Chamanna Cluozza
Los geht’s ausserhalb des Bergdorfs Zernez (1471 m ü. M.) im Unterengadin. In 3 ½ Stunden wandern wir vom Parkplatz acht Kilometer durch wunderbaren Wald immer tiefer ins Tal und immer höher hinauf bis zur Hütte (700 m hoch, 360 m runter, Beschreibung). Kaum im Wald, steht schon eine Gämse auf unserem Weg und beäugt uns neugierig, bevor sie sich zurückzieht. Immer wieder hören wir auch ein Brüllen – ob das schon ein Hirsch ist? Sehen können wir nichts …
Dabei gäbe es eigentlich tolle Aussichten zu bestaunen – wenn die dicken Wolken nicht im Tal hängen würden. Egal, es ist mystisch. Und matschig, an einigen Stellen wird der Weg zur Rutschpartie. Ebenfalls egal, nur noch über die Brücke über den eiskalten Bergbach und den Hang hinauf zur malerisch drapierten Hütte. Wir werden freundlich begrüsst, geniessen das Ankommen und tauschen die schmutzigen Schuhe und nassen Jacken gegen trockene Sachen.
Hier wird man wärmstens empfangen: die Chamanna Cluozza im Nationalpark
Chamanna Cluozza: Wo sich Hirsch und Gämse „gute Nacht“ sagen
Die Chamanna Cluozza ist eine Hütte aus dem Bilderbuch, ganz aus Holz mit warm leuchtendem Licht hinter den beschlagenen Scheiben des Gastraums. Sie bietet eine einfache und gemütliche Unterkunft in Zimmern (27 Plätze) oder Matratzenlagern (34 Plätze). Die Hüttenwirtin Nicole Naue hat ein wunderbares Team an freundlichen Leuten zusammengestellt – ganze 50 Mitarbeitende kümmern sich um die 4000 Gäste in der Saison von Juni bis Oktober. In den Schulferien und an den Wochenenden helfen auch ihr Mann Artur und die Kinder Leo und Til mit.
Romantisch und einladend steht die Hütte mitten im Wald über dem Bergbach Cluozza. Ein fest installiertes Fernrohr auf der grossen Terrasse vor dem Haus ist quasi im Dauerbetrieb. Irgendein Gast ist immer auf der Suche nach Gämsen oder Steinböcken auf den Berghöhen gegenüber.
Da! Tatsächlich, jemand sieht etwas und gibt allen anderen Suchenden Auskunft, wo die Tiere zu entdecken sind. Mit Geduld und nach einigem Suchen durchs Fernglas können auch wir ein Rudel Gämsen und drei Steinböcke weit oben klettern und grasen sehen.
Irgendwo müssen sie doch sein – die Hirsche, Gämsen und Steinböcke!
Wie im Löwengehege!
Und dann: Rrrrroooooaaaaahhhh – was klingt wie ein Löwe, ist tatsächlich ein Hirsch. Derselbe durchdringende Ton, den wir schon beim Aufstieg zur Hütte im Tal gehört hatten. Aber wo ist er nur? Wie kann sich ein so grosses Tier so unsichtbar machen? Wie mit einem solch riesigen Geweih im Dickicht aus Ästen und Stämmen durchkommen, ohne sich gnadenlos zu verheddern …? Es bleibt mir ein Rätsel. Zu erkennen ist er nur, wenn er sich bewegt und sich das Muster des Waldes kurzzeitig ändert.
Salat sucht Mitwandergelegenheit: Nachhaltige Ideen
Es wird kalt – zurück in die Hütte also. Der Speisesaal ist voll, schon bevor es um 18.30 Uhr ein super Menu gibt. Wir bekommen eine Randensuppe, einen Salat, Pizzoccheri mit Gemüse und Bergkäse und Zitronenkuchen von der Küchenmannschaft. Dass hier nachhaltig und ressourcenschonend gewirtschaftet wird, zeigt sich beim Geschirr: Bis auf das Dessert wird alles im selben Teller serviert, damit nicht zu viel gespült werden muss. Servietten gibt es auch nicht, um Papier zu sparen. Schön aufessen und nicht kleckern ist also die Devise! Es gibt Tees und Sirup statt regionale Produkte, wenig Fleisch. Die Wertschöpfung soll in der Region bleiben, der ökologische Fussabdruck geringgehalten werden.
Der Helikopterlandeplatz unweit der Hütte soll möglichst wenig für Versorgungsflüge genutzt werden. Dafür steht gleich am Anfang des Wegs zur Hütte ein grosser Kühlschrank voller Salat, Kohlköpfe etc., und Wanderer werden gebeten, doch so viel wie möglich davon mit raufzubringen, wenn noch etwas im Rucksack Platz hat.
Statt zu duschen, waschen sich die Knallharten im Waschhaus mit dem eiskalten Bergwasser. Und aufs WC lockt eine Mutter ihr Kind mit dem Spruch «Komm, wir gehen die Würmer füttern». An der Innentür ist per Schaubild erklärt, wie Würmer und Bakterien in der eigenen Kläranlage das Abwasser reinigen. Das Kind und die Natur freut’s! Ansonsten gilt: Wer Müll produziert, soll ihn bitteschön auch wieder mit nach Hause nehmen, Mülleimer sind Mangelware auf dem Gelände – recht so!
Offline gehen im Nationalpark
Wir sind offline im Nationalpark – auch in der Hütte gibt’s kein Netz. Niemand ist am Handy, alle jassen, spielen, lesen oder reden miteinander. Schon seit Beginn des Wochenendes am Parkplatz in Zernez habe ich den Flugmodus drin und nutze das Gerät nur als Kamera. Dies jedoch rege – die Stimmung ist einmalig. Statt warmer Herbstsonne tropft der erste Schnee von den Bäumen; die Schneegrenze ist deutlich sichtbar, die Bäume sehen aus wie mit Puderzucker bestäubt und auf den Berggipfeln thronen erste Sahnehäubchen.
Wanderung für Liebhaber der Einsamkeit: Ans Ende des Val Cluozza
Am zweiten Tag versteckt sich die Sonne, es ist kalt und oben liegt Schnee. Wir nehmen Nicoles Rat an und erkunden das Tal. Dafür laufen wir auf dem blau-weiss-blauen Wanderweg, der jedoch erst nach der Gabelung zum Val Sassa wirklich alpin wird. Anfangs geht’s gemütlich immer dem Bergbach entlang nach hinten ins Tal. Die Ausblicke sind traumhaft, die Sonne kommt doch durch. Ab und zu zeigt sich ein Eichhörnchen und wir sehen viele Tierspuren, aber sie scheinen eindeutig früher aufzustehen als wir…
Was wir nicht sehen: andere Wanderer. Keine Menschenseele ist hier hinten unterwegs – wie wir die Einsamkeit geniessen!
Wanderung über den Murtersattel zum Ofenpass
Zurück ins Tal wählen wir die Wanderung über den Murtersattel zum Ofenpass. Von der Hütte geht’s im Zickzack ca. 2 Stunden hoch auf den Sattel auf über 2500 m ü. M., morgens noch im Schatten und auf schneebedecktem Weg, das Val Cluozza im Rücken. Über der Kuppe wird der Blick auf das grossartige Alpenpanorama über dem Ofenpass sichtbar: Vom Piz Nuna bis zum riesigen Ortler in Südtirol können wir sehen. Unten schlängelt sich die Ofenpassstrasse durch den dichten Wald. Neben uns grast ein Rudel Gämsen, ab und zu pfeift ein Murmeltier, nur die Steinböcke zeigen sich heute nicht.
Steil und über Schneefelder geht’s zum traumhaftem Panorama auf dem Munter-Sattel.
Runter geht’s lang und steil über das Plateau von Plan dals Poms und durch den Wald zur kleinen Lichtung Plan Praspöl. In der wunderbaren Sonne schmilzt der Schnee, und im Matsch legt’s mich mal eben lang – aber was soll’s. Es ist zu schön, um sich über eine dreckige Hose Gedanken zu machen. Unten blitzt der türkisblaue Stausee am Pass, ich kann mich gar nicht sattsehen an den Farben. Hätte ich aber besser mal sollen, denn über all dem Gestaune verpassen wir den Bus am Vallun Chafuol P3, der nur stündlich fährt und der uns wieder nach Zernez bringen sollte… ja nu! Wir sind tiefenentspannt nach diesem Wochenende!
Unter dem Ofenpass leuchtet der Stausee. Das Panorama reicht vom Piz Numa bis zum Ortler in Südtirol.
Weitere Informationen
Alle Informationen zum Nationalpark finden sich hier: http://www.nationalpark.ch
Grossartig ist die Nationalpark-App, die auch offline funktionert und viel Informationen zum Park selbst, den Hütten, Fauna und Flora bereithält – auch offline! https://nationalpark.ch/app
Unterkunft
Alle Infos und Buchungsmöglichkeiten zur Chamanna Cluozza findet Ihr hier: https://nationalpark.ch/besuchen/unterkunft/cluozza/
Nächstes Mal würde ich wohl eine Nacht im Hotel Il Fuorn dazubuchen, dem einzigen Hotel im Nationalpark. Von verschiedenen Seiten hörten wir, dass das Hotel sehr schön und das Essen super sein sollte. Sogar eine Biosauna gibt’s. Und das Verlockendste: Ab September versammeln sich die Hirsche oft auf einer Lichtung in unmittelbarer Nähe zum Hotel. Mein Hunger auf Hirschgeröhre ist noch nicht gestillt! Wir kommen wieder.