Fünf Naturspektakel im Engadin
Wann bekommt man die Maloja-Schlange zu Gesicht und wo versteckt sich eines der spektakulärsten Wandererlebnisse der Schweiz? Und was hat es mit dem kriechenden Permafrost auf sich? Silvia Schaub stellt in ihrem Buch „111 Orte im Engadin die man gesehen haben muss“ reizvolle, erstaunliche und besondere Orte in einem der höchstgelegenen und sonnenreichsten Täler Europas vor.
Für uns hat Silvia eine Auswahl von fünf Naturspektakeln getroffen, man im Engadin besucht haben sollte.
Der Klimaberg – Lavaströme aus Geröll und Eis
Der Blick vom Muottas Muragl aus geht meist in die Weite – Richtung Tal über die einzigartige Seenlandschaft oder Richtung Süden zu den Drei- und Viertausendern. Dabei präsentiert sich schon in nächster Nähe Spektakuläres. Die Rede ist vom Blockgletscher, der sich vom Piz Muragl ins Val Muragl bewegt.
Nun muss man wissen, dass ein Blockgletscher nur wenig mit einem normalen Gletscher gemeinsam hat. Er ist auch nicht aus Eis – zumindest ist dieses nicht an der Oberfläche sichtbar. Diese auffällige geomorphologische Form nennt sich auch „kriechender Permafrost“. Die gefrorene Schuttmasse kriecht unter dem Einfluss der Schwerkraft nämlich langsam hangabwärts, normalerweise rund sechs Zentimeter, bei diesem Blockgletscher aber bis zu 50 Zentimeter pro Jahr. Sie erinnert in ihrer Form auffällig an einen Lavastrom in einem Vulkangebiet. Obwohl sie eher wie eine Geröllwüste aussieht, enthält sie verschiedene Formen von Eis: Poreneis, Eislinsen, massives Eis und verschüttetes Eis.
Die Alp Trupchun – Der wildreichste Ort im Nationalpark
Der Weg vom Parkplatz Prasüras bei S-chanf in Richtung Varusch ist sozusagen die Anwärmphase für das, was folgen wird. Auf dem Weg via God Aruozzas durchwandert man Lärchenwälder, wo am Wegrand verschiedene Orchideenarten stehen. Kaum hat man nach der Varuschhütte die Füsse in den Nationalpark gesetzt, tauchen auch schon die ersten Tiere auf. Murmeltiere begrüssen die Wanderer mit ihren Pfiffen. Etwas weiter oben hört man die Hirsche röhren. Kein Wunder, kann es auf dem Weg auch mal einen Stau geben, weil die Wanderer ihre Ferngläser zücken, um das Schauspiel zu beobachten.
Das Val Trupchun (copyright: Hans Lozza, SNP)
Das Ziel erreicht man nach zweieinviertel Stunden: die Alp Trupchun – der Logenplatz in diesem Wildtiertheater. Hier bekommt man Hirsche, Gämsen und Steinböcke auch wirklich zu Gesicht. Häufig ziehen auch Bartgeier oder Steinadler ihre Kreise über den Köpfen der Naturbegeisterten. Mit etwas Glück ist ein Parkwächter vor Ort, der gern beweist, dass hier wirklich der wildreichste Ort im Nationalpark ist.
Das Arven-Refugium – Der Symbol-Wald der Rätoromanen
Ganz hinten im S-charl-Tal wandert man entlang des Flüsschens Clemgia hinauf nach Tamangur, dem höchstgelegenen Arvenwald Europas. Fast wie im Urwald fühlt man sich inmitten der knorrigen, zerzausten Bäume, die zum Himmel streben und Wind, Wetter und auch Felsen trotzen. Bis zu 800 Jahre alt sollen manche sein.
Das Arvenrefugium (copyright: Roland Fischer)
Wenn sie dann das Zeitliche gesegnet haben, dauert es nochmals rund 400 Jahre, bis ihr säurehaltiges Holz endgültig zersetzt ist. Und so wirken die silbrig glänzenden Stämme und Wurzeln wie kunstvolle Skulpturen zwischen den jungen Bäumen, die dort heranwachsen. Kein Wunder, dass Tamangur immer wieder in Bildern, Filmen und auch Büchern auftaucht.
Der Felsenweg – Nichts für Angsthasen
Der Natur und einigen kräftigen Händen ist es zu verdanken, dass sich ganz zuhinterst im Val d’Uina eines der spektakulärsten Wandererlebnisse der Schweiz versteckt: der Felsenweg. Da waren zuerst einmal die Bäche vom Plateau da Rims, vom Val Cristanas und dem Schlingenpass, die sich vor Millionen Jahren tief ins Kalkgestein gruben und die Uina-Schlucht schufen.
Scuol-Sent Der Felsenweg (copyright: Andrea Badrutt, Chur)
Und dann war da Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee einiger Alpinisten aus dem deutschen Pforzheim, sich mittels eines Weges einen direkten Zugang zu ihrer Clubhütte nahe des Schlingenpasses zu verschaffen. Also bauten sie von 1908 bis 1910 an dieser Stelle einen rund 600 Meter langen und 1,3 Meter breiten Felsenweg mit zwei Tunneln und einer Galerie in die senkrechte Wand, um einen einigermassen bequemen Zugang zur Hütte zu erhalten. Für Angsthasen ist das freilich nichts. Man kann sich nur wundern, dass auch Mountainbiker diese Strecke befahren, denn schon ein kleiner Schwenker könnte fatal sein.
Die Maloja-Schlange – Ein einzigartiges Wetterphänomen
Man muss den richtigen Moment erwischen – morgens vor dem Sonnenaufgang oder noch besser abends nach dem Sonnenuntergang. Dann kann man dieses schmale, lange Wolkenband sehen, das den Namen „Maloja-Schlange“ trägt, weil es an das Reptil erinnert. Nicht nur Meteorologen sind davon fasziniert, auch Schriftsteller wie Friedrich Nietzsche oder Hermann Hesse. Dabei bekommt man dieses einzigartige Wetterphänomen nur selten zu sehen. Denn es braucht einige Faktoren, damit es überhaupt entstehen kann.
St. Moritz Die Maloja-Schlange (copyright: swiss-image.ch, Max Weiss)
Wer Glück hat sieht, wie sich eine Wolke bildet, welche sich am Südhang des Oberengadins mit der leichten Westbrise talabwärts bis über den Stazerwald hinausbewegt. Dort wird der „Schlangenkopf“ aufgehalten und verweilt rund 20 Minuten, bevor er sich durch den nach Sonnenuntergang aufkommenden Talwind im Bergell wieder Richtung Maloja zurückzieht. Am besten setzt man sich für dieses Naturschauspiel auf die Alp Nova östlich des Corviglia-Hangs über St. Moritz. Von hier aus hat man den freien Blick von Maloja bis nach Zuoz und kann den Weg der Schlange verfolgen. Wieso es dieses Phänomen nur im Engadin gibt? Das Engadin ist das einzige Tal Europas, das von Südwesten nach Nordosten verläuft und in dem der Fluss in gleicher Richtung fliesst.
Das Buch „111 Orte im Engadin die man gesehen haben muss“ ist im Buchhandel für ca. 16.95 Euro/Fr. 23.90 erhältlich
Die Autorin
Silvia Schaub, 1963 in Zürich geboren, ist diplomierte Übersetzerin und Journalistin. In den letzten zwei Jahrzehnten verbrachte sie viel Zeit im Engadin und entdeckte immer wieder neue spannende Orte. Sie lebt und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin im Kanton Aargau.