Sarajevo – das Herz des Balkans
„Hier kamen bis Ende der Achtzigerjahre Leute aus ganz Europa zum Skifahren, es war richtig was los“, erzählt Yaşar. Wir blicken auf eine verlassene Hotelruine im grünen, hügeligen Hinterland von Sarajevo. In den letzten zwei Stunden sind wir mit Yaşar durch Tannenwälder und Bergdörfer gekurvt und haben uns beim Betrachten der Landschaft zeitweise gefühlt, als wären wir irgendwo in der Schweiz.
Wären da nicht die Totenkopf-Schilder, die in regelmässigen Abständen vor Landminen warnen, und die traurige Vergangenheit dieses Ortes immer wieder vor Augen führen. Hier haben 1984 die olympischen Winterspiele stattgefunden und Sarajevos Tourismus boomte. Anfang der Neunzigerjahre war das gleiche idyllische Berggebiet Kampfzone einer der grausamsten Kriege der letzten Jahrzehnte.
Skigebiet Bjelašnica
Wir haben uns vor unserer Reise nach Sarajevo einige Gedanken gemacht, wie sichtbar wohl die Narben des Bosnienkrieges 20 Jahre später noch sind. In der schmucken Altstadt merkt man auf den ersten Blick nicht mehr viel, doch fährt man hinaus in die ärmeren Wohngegenden, entdeckt man an Gebäuden immer wieder Einschusslöcher, mal kleiner mal grösser. Je nach Einkommen der Hausbewohner, mal besser mal schlechter ausgebessert. Doch über den Krieg sprechen will in Sarajevo eigentlich niemand. Sowieso, hat sich schon sehr vieles zum Besseren gewandt, erzählt uns Yaşar. Man schaut nach vorne.
Yaşar haben wir im Tunnelmuseum kennengelernt, einem äusserst beeindruckenden und sehenswerten Mahnmal des Bosnienkriegs, das versteckt in einer Wohngegend in der Nähe des Flughafens von Sarajevo liegt. Durch den 800 Meter langen, klaustrophobisch engen Tunnel wurden während der Belagerung Lebensmittel, Medizin und Waffen transportiert. Yaşar, Mitte 50, lebt seit Geburt ein paar Häuser weiter und bietet seit zehn Jahren als Nebenverdienst Touren durch Sarajevos Hinterland an. „Kriegs-Sightseeing“, wenn man so will, mit Abstechern zu urtümlichen Bergdörfern, zu pittoresken Holzmoscheen mitten im Tannenwald und zu den ehemaligen Schauplätzen der olympischen Winterspiele. Ein wirklicher Kontrast zum lebhaften Stadtzentrum Sarajevos.
Die Altstadt von Sarajevo: Schmelztiegel der Kulturen
Im Altstadt-Viertel von Sarajevo, Baščaršija genannt, finden sich zum Glück nicht mehr viele Spuren der Neunzigerjahre, sondern gut erhaltene Bauwerke weiter zurückliegender Zeitepochen. Sarajevo wurde im 15. Jahrhundert von den Osmanen gegründet, deren Kultur die Stadt am meisten geprägt hat. Die Kulisse um den Baščaršija-Platz erinnert denn auch an ein Überbleibsel aus 1000 und einer Nacht: bunte, Bazar-ähnliche Läden, orientalische Shisha-Bars, der Duft von starkem türkischem Kaffee und der Ruf des Muezzins. Sarajevo hat sich über die Jahrhunderte zum Schmelztiegel unterschiedlicher Religionen entwickelt, was der Stadt auch den Beinamen „Jerusalem des Balkans“ einbrachte. In den wenigsten Städten der Welt kann man wohl eine höhere Zahl Moscheen, orthodoxe und katholische Kirchen sowie Synagogen fast schon Tür an Tür besuchen.
Baščaršija-Platz in der Altstadt
Lateinerbrücke
Neben religiösen Stätten noch häufiger anzutreffen sind in Baščaršija Orte, wo man sich verpflegen kann. Dem Duft von ofenfrischem, luftigem Fladenbrot und würzigen Ćevapčići, dem Nationalgericht im ganzen Balkan, erliegen wir während unseres Besuchs mehrere Male. Allgegenwärtig ist auch Kaymak, ein cremiger Frischkäse, der sowohl zu Ćevapčići, als auch zum heimischen Bier, dem Sarajevsko Pivo, gegessen wird. Die bosnische Küche ist gutbürgerlich und eher deftig. Wer etwas leichtere und dennoch landestypisch Gerichte vorzieht, kommt um das Restaurant Dveri nicht herum, in das wir aufgrund seiner leckeren, grosszügigen Menüs, der speziellen Deko und der herzlichen Bedienung an unserem zweiten Abend gleich wieder zurückkehrten.
Alles in allem sind es die Begegnungen mit Einheimischen, die einen Sarajevo-Besuch am meisten bereichern. Dies mag sicher auch daran liegen, dass in dieser noch recht untouristischen Stadt die Einheimischen den fremden Besuchern noch nicht überdrüssig sind, wie es in sehr vielen anderen europäischen Städten der Fall ist. Ihr Leuchten in den Augen, wenn wir ihnen erzählen, wie sehr es uns in ihrem Land gefällt, ist fast unvergleichbar. Dass in Sarajevo und im gesamten Land – trotz Kriegsnarben – enormes touristisches Potential steckt, wollen die Bosnier noch nicht so richtig glauben.